* 33 *
Als Jenna und Septimus auf der leeren Schlangenhelling standen, zu ihrer Rechten das dunkle Wasser des Burggrabens und rings um sie die sich ausbreitende Dunkelheit, hörten sie ein klapperndes, von den Wänden widerhallendes Geräusch auf sich zukommen. »Schnell, Jenna. Lass uns wieder hineingehen.«
Jenna nickte. Das Geräusch klang verdächtig nach einem nahenden Gespenst. Septimus fummelte noch mit dem Schlüssel herum, als eine Stimme rief: »Lehrling! Lehrling!«
Aus einer Lücke zwischen zwei Häusern tauchte die Gestalt Marcellus Pyes auf und kam aufgeregt auf sie zu. Einer seiner Schuhe sah aus, als sei er von einem Hund angenagt worden. »Dem Himmel sei Dank, dass ihr hier seid.« Der Alchimist verbeugte sich leicht vor Jenna, wie er es immer tat, und dann gelang es ihm sofort, sie zu verärgern – ebenfalls wie immer. »Prinzessin. Ich habe Sie im ersten Moment gar nicht erkannt. Ist Ihnen bewusst, dass Sie den Mantel einer richtigen Hexe tragen?«
»Ja, durchaus, vielen Dank«, erwiderte Jenna gereizt. »Und bevor Sie fragen, die Antwort lautet nein, ich werde ihn nicht ausziehen.«
Marcellus überraschte sie. »Das will ich hoffen. Er könnte sich als nützlich erweisen. Und Sie werden nicht die erste Hexenprinzessin in der Burg sein.«
»Marcellus«, sagte Septimus in dringlichem Ton, »Jenna braucht ein geschütztes Versteck. Ich habe an Ihre Sicherheitskammer gedacht ...«
Marcellus ließ ihn nicht ausreden. »Dort wäre sie nicht sicher, Lehrling. Miss Djinn weiß von der Kammer. Alle Sicherheitskammern sind der Obermagieschreiberin gemeldet. Und ich fürchte, unsere Obermagieschreiberin hat einige unserer Geheimnisse bereits ausgeplaudert.« Marcellus schüttelte den Kopf. Es bedrückte ihn, was aus dem Manuskriptorium geworden war. »Die Gespenster sind überall«, fuhr er fort. »Bald werden sie auch hier sein, und dann sitzt Prinzessin Jenna wie eine Ratte in der Falle. Wir müssen irgendwohin, wo uns das Dunkelfeld nur schwer finden kann.«
»Aber es breitet sich schnell aus«, gab Septimus zu bedenken. »Bald wird es überall sein. Jenna sollte die Burg verlassen.«
»Sep, noch bin ich hier«, erwiderte Jenna ärgerlich. »Und ich werde die Burg auch nicht verlassen.«
»Völlig richtig, Prinzessin«, sagte Marcellus. »Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass das Dunkelfeld einige Mühe haben wird, in die Anwanden einzudringen, und selbst wenn es ihm gelingt, wird es sich dort nicht so leicht ausbreiten können. Daher schlage ich vor, wir begeben uns dorthin und ... wie sagte man bei der Jungarmee noch mal, Lehrling?«
»... formieren uns neu?«, schlug Septimus vor.
»Ganz recht, formieren uns neu. Ideal für uns wäre eine unauffällige kleine Wohnung am Ende einer Sackgasse, mit einem Fenster ins Freie.«
Jenna wusste genau, wo eine zu finden war. Sie zückte den Schlüssel, den ihr Silas vor nicht allzu langer Zeit gegeben hatte.
»Was ist das?«, fragte Septimus.
»Das ist ein Schlüssel«, neckte ihn Jenna.
»Das sehe ich. Aber wofür?«
Jenna grinste. »Für eine unauffällige kleine Wohnung am Ende einer Sackgasse, mit einem Fenster ins Freie.«
Mit einem Seufzer schloss Marcellus Pye die Tür seines Hauses ab und blickte zu den dunklen Fenstern hinauf. Septimus hatte darauf bestanden, dass er alle Kerzen ausblies, und das hatte ihn ziemlich deprimiert. »Kommt jetzt«, sagte er, »wir müssen los.«
»Erst rufe ich Feuerspei«, sagte Septimus. »Irgendetwas muss ihn erschreckt haben. Er kann nicht weit sein.«
Marcellus sah ihn argwöhnisch an. Seit über fünfhundert Jahren kam er ganz gut zurecht, auch ohne auf Drachen zu fliegen, und er hatte es nicht eilig, daran etwas zu ändern. Doch Septimus hatte bereits den Heulzauber angestimmt, der von den dicht gedrängt stehenden Häusern der Schlangenhelling widerhallte und den Alchimisten erschauern ließ. Es war ein urtümlicher Laut, von dem Marcellus vermutete, dass er noch aus voralchimistischer Zeit stammte.
Nervös spähten sie in die dunklen Winkel der Helling, während sie warteten, und bildeten sich ein, da und dort eine Bewegung wahrzunehmen.
Nach ein paar Minuten flüsterte Marcellus: »Ich glaube nicht, dass dein Drache noch kommt, Lehrling.«
»Aber er muss kommen, wenn ich ihn rufe«, erwiderte Septimus besorgt.
»Vielleicht kann er nicht«, flüsterte Jenna.
»Sag doch nicht so was, Jenna.«
»Ich habe damit nicht gemeint, dass er ... äh ...« Jenna verstummte. Sie merkte, dass jedes Wort alles nur noch schlimmer machte.
»Drache hin oder her, wir können nicht länger warten«, entschied Marcellus. »Wenn wir mit Umsicht vorgehen, können wir im Dunkelfeld kürzere Strecken zurücklegen. Mein Mantel hatte gewisse ... nennen wir es einmal Fähigkeiten, und du, Lehrling, hast eine kleine Zunderbüchse, die sich als nützlich erweisen dürfte.«
Jenna warf Septimus einen fragenden Blick zu.
»Und Sie, Prinzessin, werden ausreichend geschützt sein durch Ihre Mitgliedschaft im ...« Er beäugte die Abzeichen auf ihrem Hexenmantel. »Donnerwetter, Sie machen keine halben Sachen, wie? Der Porter Hexenzirkel! Jetzt müssen wir aber los. Wir nehmen den Weg durch die Burgschlüfte.«
»Burgschlüfte?«, fragte Jenna, die sich etwas darauf zugutehielt, beinahe alles über die Burg zu wissen. »Davon habe ich noch nie gehört.«
»Das haben vermutlich die wenigsten Prinzessinnen. Obwohl sich das nun, da Ihnen andere ... äh ... Pflichten obliegen, ändern dürfte«, sagte Marcellus mit einem Schmunzeln. »Die Schlüfte gehören nicht gerade zum vornehmsten Teil der Burg, um es mal so zu auszudrücken. Wer sie benutzt, hat meist gute Gründe, das Licht zu scheuen. Doch ich kenne mich dort aus. In der Nacht können wir unbemerkt hindurchschlüpfen. Ich habe darin viel Übung.«
Das überraschte Jenna nicht. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sich Marcellus seinen langen schwarzen Umhang über, und ebenso schwungvoll tat es ihm Jenna mit ihrem Hexenmantel nach und zog sich die Kapuze über den Kopf, um ihr Diadem zu verbergen. Im Vergleich zu seinen Begleitern kam sich Septimus in seinem Lehrlingsgrün ein wenig auffällig vor. Er heftete sich an ihre Fersen wie ein Nachwuchsdieb, der seinen Lehrmeistern folgte.
Marcellus bog sogleich in einen engen Durchgang zwischen den Häusern ein. Auf einem alten, halb von Efeu überwucherten Schild stand der Name: SCHMALHANSGASSE. Sie fädelten sich, mit den Mänteln immer wieder an den rauen Backsteinen hängen bleibend, durch das Häuserlabyrinth hinter der Schlangenhelling. Auf dem Teppich aus altem Laub und Moos, gelegentlich mit weichen Haufen durchsetzt, die kleine tote Tiere waren, verursachten ihre Schritte keinen Lärm. Septimus kam sich selbst wie ein kleines Tier vor, dass durch seinen unterirdischen Bau schlüpfte. In der Hoffnung, Sterne zu sehen, blickte er immer wieder nach oben. Doch in der mondlosen Nacht bedeckten nur schneebeladene Wolken den Himmel. Ein- oder zweimal glaubte er, einen Stern auszumachen, doch sobald er um die nächste Ecke bog, verschwand er hinter den dunklen Umrissen eines Schornsteins oder der Krümmung einer Dachkante. Der beruhigende Schimmer seines Drachenrings war das einzige Licht, und so hielt er im Gehen die rechte Hand vor sich her.
Je tiefer sie in das Labyrinth vordrangen, desto schmaler wurden die Schlüfte, mitunter so schmal, dass sie seitwärts gehen und sich zwischen hoch aufragenden Mauern hindurchzwängen mussten. Septimus fürchtete, zwischen den Wänden platt gedrückt zu werden wie die Pflanzen, die Sarah Heap zwischen den Seiten ihres Kräuterbuchs trocknete. Er sehnte sich danach, die Arme nach allen Seiten ausbreiten zu können, ohne sich die Fingerknöchel an Ziegelwänden zu stoßen, ungehindert in jede Richtung laufen zu können, anstatt wie ein Krebs zwischen Steinen zu kriechen. Bei jedem Schritt hatte er das Gefühl, immer tiefer in eine Falle zu geraten, aus der es kein Entrinnen gab.
Nach einer Weile versuchte Septimus, die beklemmenden Mauern zu vergessen, und hielt nach brennenden Kerzen in den Fenstern Ausschau. Doch es gab kaum Fenster, nur kahle, hohe Steinwände auf beiden Seiten, und nur wenige Menschen hatten ein Fenster in eine Wand gebrochen, durch das man lediglich auf eine andere Wand blickte, die kaum eine Armlänge entfernt war. Doch ein- oder zweimal entdeckte er weit oben den Schein einer Kerze, der auf die Hauswand gegenüber fiel, und seine Laune hellte sich etwas auf.
Schließlich bogen sie hinter Marcellus in eine breitere Schluft ein, und der Alchimist hob warnend die Hand. Sie blieben stehen. Am Ausgang der Schluft lag eine schwarze Nebelbank – sie hatten den Rand des Dunkelfelds erreicht.
Jenna und Septimus tauschten ängstliche Blicke.
»Lehrling«, sagte Marcellus, »es wird Zeit, dass du deine Zunderbüchse öffnest.«
Neugierig beobachtete Jenna, wie Septimus eine zerbeulte Dose aus der Tasche zog und den Deckel abnahm. Sie sah, dass er etwas herausnahm, doch was es war, konnte sie nicht erkennen. Er murmelte ein paar seltsame Worte, die sie nicht verstand, und warf dann die Hände in die Luft. Sie hatte den Eindruck, dass etwas ganz langsam auf ihn herabschwebte und sich über ihn legte, aber sie war sich nicht sicher. Septimus sah nicht anders aus als zuvor. Ja, das Ganze kam ihr eher wie eine Pantomime vor – wie die Übungen, die sie im Schauspielunterricht im Kleinen Theater hatten machen müssen und die sie immer ziemlich peinlich gefunden hatte.
Doch Marcellus und Septimus schienen zufrieden, und so nahm Jenna an, dass etwas geschehen war. Und dann fiel ihr doch eine Veränderung an Septimus auf. Das Licht, das sein Drachenring verströmte, kam ihr irgendwie matter vor, so als hätte sich ein dünner Schleier darübergelegt. Und dann, als sie Septimus ins Gesicht sah und seinen Blick aufzufangen versuchte, fiel ihr auf, dass sie ihn nicht richtig zu fassen bekam. Septimus war da – und doch auch wieder nicht. Irritiert wich sie zurück. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Septimus in einer Welt lebte, die sie nie ganz verstehen würde.
Marcellus musterte seine beiden Schützlinge. Soweit er es beurteilen konnte, waren sie so gut wie nur irgend möglich gewappnet. Und nun würden sie die Probe aufs Exempel machen müssen – es wurde Zeit, das Dunkelfeld zu betreten. Er führte sie zum Ende des Durchgangs, blieb so dicht vor dem sich vorbeiwälzenden Nebel stehen, dass sie ihn mit ausgestreckten Händen hätten berühren können, und sagte: »Ich gehe voraus, und ihr kommt zusammen nach. Geht in gleichmäßigem Tempo und atmet ruhig. Bewahrt einen kühlen Kopf, denn das Dunkelfeld wird versuchen, euch mit Gedanken an Menschen, die ihr einmal geliebt habt, vom Weg abzubringen. Lasst euch davon nicht beeinflussen und vor allem, geratet nicht in Panik. Panik zieht Dunkelkräfte an wie ein Magnet. Verstanden?«
Jenna und Septimus nickten. Sie konnten es nicht recht fassen, dass sie gleich aus freien Stücken in die wabernde Dunkelheit treten würden. Der Dunkelschleier und der Hexenmantel schützten sie vor den verführerischen Gedanken, die Menschen ins Dunkelfeld lockten. Es war schon merkwürdig, dachte Jenna. Aber der Hexenmantel ermöglichte ihr, das Dunkelfeld als das zu sehen, was es in Wirklichkeit war: eine furchterregende Wolke des Bösen.
Sie tauschten noch einmal einen Blick, dann folgten sie Marcellus in den schwarzen Nebel.
Der Dunkelschleier saß wie eine zweite Haut. Septimus kam ohne Mühe durch den dichten Nebel, doch Marcellus und Jenna hatten zu kämpfen. Jennas Hexenmantel bot weniger Schutz als der Dunkelschleier, denn er umschloss den Körper längst nicht so dicht und war nicht annähernd so mächtig. Noch weniger geschützt war Marcellus Pye in seinem Mantel – der Alchimist beschäftigte sich bei Weitem nicht so viel mit schwarzer Magie, wie er die Leute gerne glauben machte. Doch in einem Dunkelfeld bieten alle schwarzmagischen Überreste Schutz, und so kamen Marcellus und Jenna immerhin voran, auch wenn sie das Gefühl hatten, durch Leim zu waten und durch Watte zu atmen. Wellen von Müdigkeit überrollten sie, doch mit Willenskraft zwangen sie sich weiterzugehen.
Nach ein paar Minuten blieben sie stehen. Sie hatten die Zaubererallee erreicht. Marcellus schaute sich vorsichtig um. Jenna sah, wie er nach rechts, nach links und dann wieder nach rechts spähte, genau wie Sarah es immer getan hatte, wenn sie, als Jenna noch klein war, zusammen die Allee überquerten. Damals hatte sie gewusst, wonach Sarah Ausschau hielt, aber sie hatte keine Ahnung, wonach Marcellus jetzt suchte – oder wie er überhaupt etwas sehen konnte. Marcellus gab ihnen ein Zeichen weiterzugehen, und sie traten auf die Zaubererallee.
Es war kein angenehmes Gefühl. Das Dunkelfeld war hier mächtiger und bewegte sich um sie herum wie ein lebendiges Wesen. Manchmal spürten sie, wie etwas an ihnen vorbeistrich, und einmal stach ein Gespenst mit dem Finger nach Marcellus, doch er verscheuchte es mit einem schwarzmagischen Fluch. Sie hielten sich in der Mitte der Straße, achteten darauf, dass sie langsam und ruhig atmeten, ein und aus, ein und aus, und gingen mit festen Schritten die vertraute, nun aber so fremde und beängstigende Zaubererallee hinunter.
Nach einer Weile hatte Septimus das deutliche Gefühl, dass sich etwas von hinten näherte. Im Laufe seiner Lehre hatte er ein feines Gespür für solche Dinge entwickelt und wusste, dass normalerweise darauf Verlass war. In Erinnerung an Marcellus Pyes Warnung widerstand er dem Verlangen, sich umzudrehen, doch das Gefühl wurde immer stärker. Von hinten nahte ein großes Geschöpf, und zwar schnell. So schnell, dass sie, wenn sie nicht sofort Platz machten ... Er gab Marcellus und Jenna einen kräftigen Stoß, was in einem Dunkelfeld nicht so einfach ist, und sprang zur Seite.
Es war gerade noch rechtzeitig. Ein Pferd preschte vorbei, groß und schwarz, mit weit aufgerissenen, funkelnden Augen. Seine Mähne wehte in der Dunkelheit, und auf seinem Rücken saß, sich an ihm festklammernd und stumme Entsetzensschreie ausstoßend, Lucy Gringe.
Der dahinfliegende Donner zog eine Schneise, die wie ein Tunnel durch den wirbelnden schwarzen Nebel führte. Marcellus hatte sich rasch wieder gefasst und bedeutete Jenna und Septimus, dem Rappen zu folgen. In dem Tunnel, der die Form eines Pferdes hatte, kamen sie zügig voran. Marcellus und Jenna taten sich leichter, da sie nicht mehr gegen die zähen Dunkelkräfte ankämpfen mussten, aber sie wussten, dass dieser Zustand nicht lang anhalten würde – der Nebel strömte bereits wieder zurück. Sie sahen, dass Donner am Ende des Tunnels stehen geblieben war, und von fern hörten sie gedämpfte Rufe.
»Mom«, flüsterte Jenna aufgeregt Septimus zu. »Ich kann Mom hören!«
Septimus war sich nicht sicher, ob es Sarah war. Für ihn klang es eher nach Lucy Gringe, und daneben war noch eine tiefere Stimme zu vernehmen.
Donners Tunnel fiel langsam in sich zusammen, und wie der Rauch eines Feuers, in dem etwas Übelriechendes verbrennt, wälzten sich Schwaden des schwarzen Nebels in die Schneise. Die Stimmen am Ende des Tunnels wurden zu einem geisterhaften Flüstern, das wie aus weiter Ferne zu ihnen drang, doch Jenna glaubte fest, Sarahs Stimme zu hören. Plötzlich begann sie, sehr zu Marcellus’ Missfallen, zu rennen. Sie konnte es nicht ertragen, dass die Stimme ihrer Mutter wieder von der Dunkelheit verschluckt wurde. Diesmal musste sie zu ihr.
Jenna flog förmlich durch den Tunnel und zwang Septimus und Marcellus, dem Hexenmantel zu folgen, der hinter ihr herflatterte wie große schwarze Flügel. Schließlich waren sie am Ende des Tunnels, und der Anblick, der sich ihnen dort bot, war so merkwürdig, dass sie sich keinen Reim darauf machen konnten, Septimus nicht und Marcellus schon gar nicht.
Zunächst sah Septimus nur Donner, der mit den Hufen stampfte, den Kopf in den Nacken warf und mit den Augen rollte – ein verschrecktes Pferd, das durchgehen wollte. Ein Mann hielt ihn an der Mähne fest und redete ihm mit leiser Stimme gut zu, aber ohne großen Erfolg, wie es schien. Hinter dem Pferd, fast vollständig verdeckt durch seinen massigen, mit einer Sternendecke bedeckten Leib, sah er den Saum von Lucy Gringes besticktem Kleid und ein Paar klobige Stiefel. Und dann entdeckte er Jennas Hexenmantel – unter dem vier Füße hervorschauten – und schließlich, als Donner sich plötzlich drehte, Jenna selbst. Sie hielt ihre Mutter in den Armen und hatte ihren Mantel um sie geschlungen, als wollte sie sie nie wieder loslassen. Auch Lucy hatte sich an jemanden geklammert ...
»Simon!«, stieß Septimus hervor und drehte sich zu Marcellus um. »Mein Bruder. Natürlich. Wie hätte es auch anders sein können. Er steckt hinter allem. Darum ging es also in seinem schaurigen Brief: Hüte dich vor den Dunkelkräften. Jetzt wird mir alles klar.«
Simon hatte jedes Wort gehört. »Nein!«, protestierte er. »Nein, so ist es nicht. Nein! Ich ...«
»Sei still, du Scheusal«, fuhr ihn Septimus an.
Marcellus wusste nicht, was hier vorging. Aber eins wusste er: Ein Dunkelfeld war kein geeigneter Austragungsort für einen Familienstreit.
»So glaub mir doch, ich habe nichts damit zu tun«, beteuerte Simon, halb flehend, halb zornig, weil schon wieder ihm die Schuld für etwas gegeben wurde, womit er nichts zu tun hatte.
»Du Lügner!«, explodierte Septimus. »Wie kannst du es wagen, hierherzukommen und ...«
»Sei still, Lehrling!«, schimpfte Marcellus.
Septimus war so schockiert, dass er mitten im Satz abbrach. In dieser Weise hatte ihn Marcellus, der sonst immer ausnehmend höflich war, noch nie angefahren.
Marcellus nutzte das verdutzte Schweigen. »Wenn euch euer Leben lieb ist, tut ihr jetzt, was ich sage, und zwar alle«, befahl er in gebieterischem Ton. »Sofort.«
Mit einem Schlag kam ihnen wieder zu Bewusstsein, in welch gefährlicher Lage sie sich befanden. Alle nickten, sogar Simon.
»Na also«, sagte Marcellus. »Jenna, Sie kennen den Weg, deshalb gehen Sie mit dem Pferd voraus. Mit seiner Hilfe können Sie den Weg ein wenig frei machen.« Simon wollte etwas einwenden, doch Marcellus sprach weiter: »Wenn Sie mit dem Leben davonkommen wollen, tun Sie, was ich sage. Septimus, deine Mutter ist sehr schwach. Du wirst feststellen, dass dein Dunkelschleier dehnbar ist und auch für zwei reicht. Er wird sie vor dem Schlimmsten schützen. Ich komme mit der jungen Dame und Simon Heap nach – der sind Sie doch, nicht wahr?« Simon nickte. »In diesen drei Gruppen werden wir dicht hintereinander gehen. So kommen wir in dem zähen Nebel am besten voran. Ich bitte mir absolute Ruhe aus. Und keine Widerworte. Jedweder Art. Ist das klar?«
Alle nickten.
Und so machten sie sich wie Gänse in V-Formation auf den Weg, Jenna mit Donner vorneweg, dann Septimus und Sarah Heap gemeinsam unter dem Dunkelschleier, und am Ende Marcellus, der seinen Mantel auf der einen Seite um Simon und auf der anderen Seite um Lucy gelegt hatte.
Als sie losliefen, murmelte Jenna leise ihr Ziel vor sich hin. Sie wusste nicht, warum sie das tat, doch kaum hatte sie es ausgesprochen, war sie fest davon überzeugt, dass sie den Weg finden würde. Bald bog sie von der Zaubererallee in die Gassen ab, die zum nächstgelegenen Eingang in die Anwanden führten. Die Stille in dem schwarzen Nebel war ihr willkommen. So konnte sie sich besser konzentrieren, und von dem Hexenmantel ging etwas aus, das ihr inmitten der Gefahr, die sie umgab, ein Gefühl der Sicherheit gab. Sie kam mühelos voran, und als sie sich umdrehte, um festzustellen, ob ihr noch alle folgten, sah sie, dass sie zusammen mit Donner den anderen einen Weg bahnte. Nicht zum ersten Mal staunte sie über die Macht ihres Mantels.
In dieser Schreckensnacht gab es in der Burg niemanden, der sich auch nur annähernd so unbeschwert durch den schwarzen Nebel bewegte wie Jenna. Ihre Freude, Sarah wohlbehalten gefunden zu haben, überstrahlte alles andere. Das Dunkelfeld und das unvermittelte, verdächtige Auftauchen Simons kümmerten sie wenig. Sie hatte ihre Mom wieder, und das war die Hauptsache.
Und alle Wege, die sie sich vor vielen Jahren für die Prüfung »Wie finde ich mich außerhalb der Anwanden zurecht?« eingeprägt hatte, führten genau dorthin, wo sie jetzt hinwollte: zu der großen roten Tür in der Hin-und-Zurück-Straße.